Abt.: Mit Sicherheit ist nichts sicher
Neue Weltunordnung
Schwierig ist es, von liebgewonnenen Vorurteilen und Verhaltensmustern abzulassen. Gar eigene Überzeugungen zu hinterfragen. Zumal es obendrein immer schwieriger wird, neue, vertretbare Vorurteile und Überzeugungen auf dem freien Markt zu finden.
Mache ich mir dieses Vorurteil zu eigen, fühlen sich jene auf den Schlips getreten. Teile ich jene Überzeugung, bin ich bei diesen unten durch.
Sich in diesem Wirrwarr nicht selbst zu verlieren oder vielleicht gar im Bett des Feindes aufzuwachen, ist wahrlich eine Mammutaufgabe.
Wie einfach war es - sagen wir mal in den 80er Jahren - die Welt in böse und böse aufzuteilen. Der Westen war böse, weil Kapitalismus einfach böse war. Der real existierende Sozialismus ist böse, weil er in echt kein Sozialismus und obendrein menschenverachtend war.
Bekam man in hitziger Diskussion den Spruch "geh doch nach drüben" vor den Latz geknallt, wusste man, man hat den Gegner in der Ecke und konnte zum argumentativen Todesstoß ansetzen.
Wurde man hingegen als Bourgeois beschimpft, war man sicher, die Deckung der anderen Seite unterlaufen zu haben und konnte das Florett an der ungeschützten Flanke ansetzen.
Nun, der Kapitalismus ist immer noch böse, das interessiert hier aber kaum noch wen. Der real existierende Sozialismus existiert nicht mehr.
Was die Welt inzwischen an Islamismus, Despotismus und sonstig korrupten Systemen hervor gebracht hat, taugt nicht besonders zur Identitätsfindung. Vielmehr versperrt das zunehmend den Blick auf Zusammenhänge und verwirrt den inneren Moral- und Ethikkompass. Bald täglich ist man gefordert, die eigene Mitte neu zu justieren.
Wird man heute etwa als "Putinversteher" bezichtigt, dann weiß man zwar, man hat sein Gegenüber in eine argumentative Notlage gebracht, der Titel schmerzt dennoch. Denn für einen Putin hat man schließlich kein Verständnis, vielmehr Verachtung ist es, die man empfindet.
Und doch wird Kritik am "kollektiven Westen" mit einem schnellen "Putinversteher" unterbunden und vom Tisch gewischt. Das Auditorium wird einem "Putinversteher" nicht applaudieren, wird seine Argumente nicht hören wollen, wird ihn mundtot machen.
Applaudiert das Publikum dennoch, ist Vorsicht geboten. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass man solch ein Publikum gar nicht haben möchte.
Eine konstruktive oder erhellende Debatte zum Beispiel über die Rolle der CIA und anderer Nachrichtendienste ist nicht mehr möglich.
Wir wissen zwar, dass die Geheimdienste - aus West und Ost, das macht keinen Unterschied - ihre dreckigen Finger noch in jeder internationalen Angelegenheit gehabt haben. Das lässt sich nachlesen und nachprüfen. Da machen die oft selbst kein Gewese drum. Und doch wird schon der Gedanke daran, die CIA könne irgendwas mit dem Euromaidan am Hut gehabt haben, als abwegige Verharmlosung der Putinschen Expansionsgelüste abgetan.
Sicher, bisher gibt es keine Belege über eine wie auch immer geartete Beteiligung der CIA. Tatsächlich ist es aber so, dass das völlig irrelevant ist, denn - egal ob Geheimdienste am Euromaidan beteiligt waren oder nicht - Putin führt einen Angriffskrieg.
Es ist auch egal, wie viele Nazis am Euromaidan beteiligt waren und in welchen Regierungen sie vertreten waren. Es ist egal, wie korrupt die einzelnen Regierungen waren. Selbst der Einsatz von Gift im Wahlkampf spielt keine Rolle. Putin führt einen Angriffskrieg.
Ist dieser Krieg irgendwann vorbei, dann spielt das alles eine Rolle. Es spielt eine Rolle, was in zukünftigen Geschichtsbüchern stehen wird. Es muss auch eine Rolle bei Beitrittsverhandlungen zur EU spielen. Korrupte Nationalisten und vordemokratische Staaten gibt es da schon genug.
Es muss aufgearbeitet werden. Und es muss auch ans Licht, ob und wie sich der "kollektive Westen" eingemischt hat. Und das hat er.
Und wer das fordert, ist kein "Putinversteher". Nicht im geringsten. Der hat nur einfach keinen Bock auf die üblen Machenschaften hierzulande.
Ich für meinen Teil habe im Laufe der jüngeren Geschichte so manche Meinung über die Ukraine, und was da außen herum passiert, revidieren müssen. Und auch die eine oder andere Grundüberzeugung ist angekratzt oder über Bord.
Besonders - scheinbar oder tatsächlich - paradoxe Situationen bringen mich ins Grübeln.
So bin ich bis heute überzeugt, dass sich mit Waffenlieferungen kein Frieden schaffen lässt. Ich bin aber auch überzeugt, dass die Ukraine ein Recht darauf hat, sich zu verteidigen. Tatsächlich kann ich aber der Ukraine nicht das Recht auf Selbstverteidigung einräumen, ihr aber gleichzeitig Waffen vorenthalten.
Nationalstaaten sind für mich ein Grundübel der Menschheitsgeschichte. Und doch gestehe ich der Ukrainischen Nation ihre Existenz zu, die von einem Putin niemals ausgelöscht werden darf.
Ich gehe sogar so weit, dass mir die Annektion von Krim, Donezk und Luhansk zuwider ist und ich dennoch dafür plädiere, deren Abtrennung von der Ukraine für einen schnellen Frieden in Erwägung zu ziehen.
Natürlich darf Putin den Krieg nicht gewinnen. Und natürlich darf Putin keine Atomwaffen einsetzen. Und natürlich wird Putin Atomwaffen einsetzen, wenn er den Krieg nicht gewinnt.
Ich bin mir sicher, die Welt hat nach dem Ukraine Krieg ein anderes Gesicht. Und ich bin mir sicher, mir wird dieses Gesicht nicht gefallen.